01 Versuch
02 über die Krankheiten des Kopfes.
03 Die Einfalt und Gnügsamkeit der Natur fordert und bildet an dem
04 Menschen nur gemeine Begriffe und eine plumpe Redlichkeit, der künstliche
05 Zwang und die Üppigkeit der bürgerlichen Verfassung heckt Witzlinge
06 und Vernünftler, gelegentlich aber auch Narren und Betrüger aus und
07 gebiert den weisen oder sittsamen Schein, bei dem man sowohl des Verstandes
08 als der Rechtschaffenheit entbehren kann, wenn nur der schöne
09 Schleier dichte genug gewebt ist, den die Anständigkeit über die geheime
10 Gebrechen des Kopfes oder des Herzens ausbreitet. Nach dem Maße, als
11 die Kunst hoch steigt, werden Vernunft und Tugend endlich das allgemeine
12 Losungswort, doch so, daß der Eifer von beiden zu sprechen wohl unterwiesene
13 und artige Personen überheben kann sich mit ihrem Besitze zu
14 belästigen. Die allgemeine Achtung, darin beide gepriesene Eigenschaften
15 stehen, macht gleichwohl diesen merklichen Unterschied, daß jedermann weit
16 eifersüchtiger auf die Verstandesvorzüge als auf die guten Eigenschaften
17 des Willens ist, und daß in der Vergleichung zwischen Dummheit und
18 Schelmerei niemand einen Augenblick ansteht, sich zum Vortheil der letzteren
19 zu erklären; welches auch gewiß sehr wohl ausgedacht ist, weil, wenn
20 alles überhaupt auf Kunst ankommt, die feine Schlauigkeit nicht kann entbehrt
21 werden, wohl aber die Redlichkeit, die in solchem Verhältnisse nur
22 hinderlich ist. Ich lebe unter weisen und wohlgesitteten Bürgern, nämlich
23 unter denen, die sich darauf verstehen so zu scheinen, und ich schmeichle mir,
24 man werde so billig sein, mir von dieser Feinigkeit auch so viel zuzutrauen,
25 daß, wenn ich gleich in dem Besitze der bewährtesten Heilungsmittel wäre, |